In Wahrheit war er immer da!
Von Michael MeynsWer in den 1950er-Jahren in Deutschland einen Mistbagger kaufen wollte, der stieß womöglich auf die Produkte der bayerischen Firma Mengele Agrartechnik – und finanzierte mit dem Kauf zugleich auch das Leben eines der berüchtigtsten Kriegsverbrecher des Dritten Reichs: Josef Mengele, der flüchtige Sohn der Praktikantenfamilie, auch bekannt als Todesengel von Auschwitz. Der entkam nach Ende des Zweiten Weltkriegs dank der sogenannten Rattenlinie nach Südamerika, wo er – wie viele andere Nationalsozialisten – in den Diktaturen von Argentinien bis Brasilien aufgenommen wurde.
„Das Verschwinden des Josef Mengele“ hat „Leto“-Regisseur Kirill Serebrennikow sein biografisches Schwarz-Weiß-Drama nach dem gleichnamigen Tatsachenroman genannt, doch von einem Verschwinden kann streng genommen gar nicht die Rede sein. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war schließlich lange Zeit nicht allzu groß. Was Mengele aber trotzdem nicht davon abhielt, sich in wachsende Paranoia und Selbstmitleid zu flüchten, verkörpert von August Diehl in einer grandiosen, verstörenden Performance.
Buenos Aires, 1956. Nach dem Sturz von Juan Perón haben sich die Zeiten in der argentinischen Hauptstadt geändert, und deutsche Kriegsverbrecher, die hier im Exil leben, werden nicht mehr länger vom Regime geschützt. Grund genug für Josef Mengele, die Zelte abzubrechen und das Land zu verlassen. Mit Hilfe eines Netzwerks deutscher Exilanten, die meisten von ihnen eingefleischte Nationalsozialisten, manche auch Kriegsverbrecher, gelingt es Mengele, immer wieder neue Orte zu finden, an denen er mit wechselnden Namen – Georg oder Peter, José oder Don Pedro – untertauchen kann.
Sogar einen Abstecher zu seiner Familie nach Deutschland wagt er. Das Interesse der Bundesrepublik, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen, ist noch gering. 1977 hat sich das zumindest ein Stück weit geändert: Mengele lebt inzwischen im brasilianischen São Paulo, wo er von seinem Sohn Rolf (Maximilian Meyer-Bretschneider) besucht und zur Rede gestellt wird. Wie so viele Vertreter der Nachkriegsgeneration will auch Rolf Antworten darauf erhalten, was sein Vater im Krieg gemacht hat…
Nach gut einer Stunde setzt Kirill Serebrennikow einen auf perfide Weise großartigen Schnitt: In zwei, drei Szenen hatte Rolf Mengele seinen Vater schon bedrängt, ihm endlich die Wahrheit über das zu erzählen, was in Auschwitz passiert ist. Und nun scheint es endlich so weit zu sein: Die Kamera ist nah an Mengeles Gesicht, man ahnt schon, dass jetzt eine Rückblende kommt – und ein Schnitt transportiert vom in Schwarz-Weiß gefilmten Brasilien der späten 1970er, wo Mengele wie ein Tier im Käfig vor sich hinvegetiert, zu einem malerischen See, in dem Mengele und seine Frau Martha planschen und sich dann auf der Decke in der Sonne aalen.
„Ich könnte heute früher Schluss machen“, sagt Mengele zur Freude seiner Frau, die sich auf das gemeinsame Abendessen mit anschließendem Blaubeerkuchen freut. Unweigerlich muss man hier an Jonathan Glazers grandiosen „The Zone Of Interest“ denken, der mit ganz ähnlichen Bildern (von womöglich sogar exakt demselben See) die Banalität des Bösen beschrieb. Und auch im Fall von Mengele muss man wohl konstatieren: Seine Zeit als Lagerarzt in Auschwitz, wo er die Häftlinge in arbeitsfähig und vernichtungswürdig einteilte, während er nebenbei seine perversen „medizinischen“ Experimente veranstaltete, waren ganz offensichtlich die glücklichsten Monate seines Lebens.
Basierend auf dem genau recherchierten Tatsachen-Roman von Olivier Guez entwirft der seit einigen Jahren in Berlin im Exil lebende Russe Kirill Serebrennikov das Psychogramm eines Überzeugungstäters im Dienst seines Landes: Das geht sogar so weit, dass dieser sich selbst eingeredet hat, mit der Selektion an der Rampe in Auschwitz Leben gerettet zu haben. Auch seine Experimente an Zwillingen, Kleinwüchsigen oder anderen in irgendeiner Weise von der Norm abweichenden Menschen hält er weiterhin für einen wichtigen Dienst für die Wissenschaft. Eine Selbsttäuschung, die emblematisch für die Lüge eines ganzes Landes steht, das sich auch nach dem Krieg lieber in Ausreden und Entschuldigungen flüchtete als sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Wenn die Nazis im südamerikanischen Exil von einem Wiederaufleben des Reichs träumen, auf Feiern laut ihre Kampflieder grölen, während eine vom lokalen Personal mit Hakenkreuzfahne verzierte Hochzeitstorte angeschnitten wird, benehmen sie sich, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Man sollte doch langsam einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen, fordert Mengele einmal – und er dürfte damit nicht wenigen Bundesbürger*innen der damaligen Zeit (und vermutlich auch der Gegenwart) aus dem Herzen gesprochen haben.
Die Leistung speziell von August Diehl („Der Meister und Margarita“) ist dabei schlichtweg grandios: Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren spielt er den anfangs noch feschen Nazi, der zunehmend verfällt, der sich irgendwann kaum noch im Spiegel ansehen mag, der sich in Schimpftiraden auf die Ungarn ergeht, die ihm Unterschlupf gewähren (und dabei viel Geld verdienen). Auch alle Südamerikaner*innen sind für ihn Untermenschen, nur die Deutschen lässt er als Herrenrasse gelten. Wenn Mengele kritischen Fragen ausweicht, mag man darin ein gewisses Verständnis für die eigene Schuld sehen, doch so etwas wie Reue kann man von so einem Mann nicht erwarten. In oft minutenlangen Plansequenzen nähert sich Serebrennikow Mengele, umkreist ihn, bekommt ihn aber nie wirklich zu fassen, was vielleicht genau der Punkt ist.
Kein Superbösewicht war er, sondern ein Wissenschaftler, der wie so viele Deutsche seiner Zeit dem Wahnsinn der Nationalsozialistischen Doktrin verfiel und unsägliche Verbrechen beging. Banal und erschreckend zugleich wirkt dieser Mann, der sich der Justiz entzog und 1978 – auch das ganz banal – beim Schwimmen ertrank. Jahre nach seinem Tod wurden die möglichen Knochen Mengeles entdeckt und Anfang der 1990er tatsächlich zweifelsfrei als die seinen identifiziert. Inzwischen dienen sie in São Paulo als Lehrstück für Student*innen der Forensik. Eine hübsche Ironie für die letzten Überreste eines perfiden Forschers, der haufenweise deformierte Skelette aus Auschwitz an Universitäten in Deutschland schickte, natürlich immer nur im Dienst der Wissenschaft...
Fazit: In seinem biografischen Film „Das Verschwinden des Josef Mengele“, in dem August Diehl als Gesicht der Banalität des Bösen brilliert, nähert sich Kiril Serebrennikow dem Todesengel von Auschwitz mit einer fragmentierten Erzählung seiner Jahrzehnte umspannenden Flucht durch mehrere südamerikanische Länder. Dabei stehen die wachsende Paranoia und das langsame Abdriften in den endgültigen Wahnsinn eines der übelsten Kriegsverbrecher des Dritten Reichs im Mittelpunkt – zugleich wissen wir aber immer auch, dass Serebrennikow hier immer auch die Geschichte einer verdrängenden Nation miterzählt.
Wir haben „Das Verschwinden des Josef Mengele“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er in der Sektion Cannes Premiere sein Weltpremiere gefeiert hat.