Ein schicksalhaftes Sommermärchen
Von Christoph Petersen„Schicksal“ ist als Wort eigentlich noch viel zu klein für das Szenario von Christian Petzolds „Miroirs No. 3“: Den ganzen Tag steht Laura (Paula Beer) irgendwie schon neben sich. Trotzdem begleitet sie ihren Freund und ein befreundetes Paar im roten Cabrio zu einem Wochenendausflug. Schon auf dem Hinweg trifft sich ihr Blick mit dem von Betty (Barbara Auer), die am Straßenrand einen Gartenzaun weiß streicht. Am Ziel angekommen, hält es Laura endgültig nicht mehr aus, sie will zurück nach Berlin. Ihr Freund fährt sie widerwillig und wohl auch ein wenig wütend zu einem nahegelegenen Bahnhof.
Ein lauter Knall. Gänseschnattern. Das Cabrio liegt aufrecht im Feld und es sieht so aus, als sei das Hirn des Freundes zum Teil über einem Stein ausgelaufen. Laura hingegen hat Glück, sie wurde rechtzeitig herausgeschleudert, mit nur einem Kratzer am Rücken und nur ein paar Meter entfernt vom Haus mit dem halbfertig-gestrichenen weißen Gartenzaun. Der Notfallsanitäter meint, sie müsse nicht zwingend ins Krankenhaus – und so bleibt sie einfach da, und Betty hat auch nichts dagegen, kümmert sich sogar ganz hingebungsvoll um ihre plötzliche Patientin...
Nach dem doppelbödigen „Roter Himmel“ liefert Christian Petzold („Yella“, „Phoenix“) direkt den nächsten Film, der überwiegend nur in einem einzelnen ländlichen Sommerhaus angesiedelt ist. Aber diesmal geht es nicht darum, etwas oder jemanden zu entlarven und von seinem hohen Ross zu stoßen. Stattdessen lässt sich Petzold zu einer (fast schon märchenhaften) Utopie hinreißen: Laura scheint für Betty und ihre Königsberger Klopse liebenden Handwerker-Männer – ihr Mann Richard (Matthias Brandt) und ihr Sohn Max (Enno Trebs) – eine Lücke zu füllen. Welche das ist, kann sich jede*r im Publikum an zwei Fingern abzählen. Aber was sonst auch gerne mal als Stoff für Gothic-Horror herangezogen wird, wenn die Schlossherrin in einer mysteriösen Besucherin plötzlich ihre verschwundene Tochter zu erkennen glaubt, hat hier so gar nichts Abgründiges an sich.
Zunächst werden die Dinge repariert, nach dem Gartenzaun der Wasserhahn, die Geschirrspülmaschine, das Fahrrad mit der zerbrochenen Sattelstange. Es folgen die Menschen und schließlich die Familie. Paula Beer („Stella. Ein Leben“) macht eigentlich gar nicht viel mehr, als den Menschen um sich herum mit aufgeschlossener Neugierde zu begegnen. Trotzdem wirkt sie auf ihrem Fahrrad fast schon wie eine Fee, die in diesen verwunschenen Ort buchstäblich hineingekracht ist, um als Katalysator einen allumfassenden Heilungsprozess anzustoßen. Das fühlt sich ganz und gar verzaubernd an und ist zudem mit viel feinem Humor abgeschmeckt. Einige Male wird sogar richtig laut gelacht, das hat dann meist mit der Handwerkswütigkeit der Männer zu tun.
„Miroirs No. 3“ ist eigentlich das genaue Gegenteil seines zumindest beim ersten Hören doch prätentiös und anstrengend, irgendwie nach Uni-Hausaufgaben klingenden Titels. Man könnte leicht den Fehler machen, ihn deshalb als „Nebenwerk“ zu bezeichnen, dabei ist es doch gerade die höchste Kunst, einen Film mit einer solch vermeintlich schlichten, aber absoluten Klarheit zu erzählen. Gerade weil eben auch das gleichnamige Klavierstück von Maurice Ravel eine wichtige Rolle im Film spielt, haben sich direkt nach der Weltpremiere in Cannes gleich mehrere englischsprachige Kritiken zu dem Wortspiel hinreißen lassen, der Film sei „minor-key“ – also gedämpft, fein, vielleicht auch ein wenig melancholisch.
Und das stimmt ja alles auch. Aber vor allem ist er auf angenehm unaufdringliche Weise hoffnungsvoll. So lädt „Miroirs No. 3“ zum Träumen ein, dass eine solche unwahrscheinliche Wahlfamilien-Utopie tatsächlich möglich sein könnte – zumal sich auch die Musik zunehmend immer verwunschener anhört. Da ist es fast ein Schock, wenn wir feststellen müssen, dass „Miroirs No. 3“ trotz allem sehr wohl in der realen Welt spielt. Aber selbst dann bleibt Petzold großzügig, auch dem Publikum, aber vor allem seinen Figuren gegenüber. Garantiert kein Kitsch, aber auf subtile Weise wunderschön.
Fazit: Trotz der Katastrophe zum Auftakt derart leichtfüßig und feinfühlig, dass man den Sommer in den Bildern regelrecht zu schmecken meint.
Wir haben „Miroirs No. 3“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er in der Sektion „Directors' Fortnight“ seine Weltpremiere gefeiert hat.